Die Autogerechte Stadt – Utopie oder Dystopie?

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Utopien prägen die Entwicklung unserer Städte schon seit sich Menschen in Agglomerationen zusammenschließen. Kaum eine Utopie hat die Städte so nachhaltig geprägt wie die autogerechte Stadt, die sich im Paradigmenwandel in Richtung menschengerechten Stadt wahrlich zur Dystopie entwickelt hat. Doch sehen das alle so? Ist die autogerechte Stadt nicht viel eher eine allgegenwärtige Utopie in frischem Gewand?

Sehen wir uns das einmal an: Ideen für die Zukunft unserer Städte sind nicht erst seit Corona in aller Munde: Planung, die den Menschen in den Fokus rückt, die Verteilung des öffentlichen Raums und Verkürzung der alltäglichen Wege sind spätestens seit den 1980er-Jahren im wissenschaftlichen Diskurs der Stadtplanung angekommen. Doch Corona hat geholfen, das Thema auch in weniger planungsaffine Bevölkerungsschichten zu bringen: Wo verbringt man seine Zeit, wenn einem das eigene zu Hause schon zu Kopf steigt und die üblichen, konsumorientierten Aktivitäten kaum möglich sind? Wie soll man 2 Meter Abstand zu anderen Menschen halten, wenn die Gehsteige nicht mal 2 Meter breit sind? Fühle ich mich im öffentlichen Raum überhaupt wohl? Plötzlich sind sehr viele Menschen gezwungen, ihre Freizeit in ihrem eigenen Grätzel zu verbringen und hinterfragen zurecht die Platzaufteilung im öffentlichen Raum. Doch wie kam es dazu, dass die Dominanz des Automobils, vor allem im politischen Diskurs, bis heute fast unwidersprochen ist?

Der Aufschwung des Autos und der „individuellen Mobilität“ (Fahrrad und zu Fuß gehen ist übrigens auch individuelle Mobilität, damit lässt sich aber nicht so viel Geld verdienen) folgte aus den Anfängen der Fließbandproduktion in den USA im Jahre 1914, die das Auto auch für die Mittelschicht leistbar machte. Der Grundstein für die Massenmotorisierung war damit gelegt.

Bis dieser Trend auch in Österreich ankam, vergingen einige Jahre. Spätestens mit dem Ständestaat und dem Nationalsozialismus wurde die individuelle Mobilität für das Volk sehr stark propagiert. Erste Autobahnen wurden gebaut – unter den Nationalsozialisten mit extra Schlangenlinien, um dem Volk die Schönheit des Landes zu präsentieren. Richtig losgegangen mit dem Autoboom ist es aber erst nach dem 2. Weltkrieg, als Autos auch für Einkommensschwächere leistbar geworden sind. Zusammen mit Verkehrsplanern, die zur Ausbildung in die USA geschickt worden sind, um den autogerechten Umbau der Städte zu erlernen, war dies die Geburtsstunde der nachhaltigsten Veränderung (manche sagen auch: Zerstörung) des menschlichen Lebensraumes seit der Industrialisierung, die bis heute anhält.

Aber was hat die Sozialdemokratie damit zu tun? Seit dem 1. Weltkrieg waren, mit Unterbrechungen, die meisten europäischen Städte sozialdemokratisch regiert. Das hat sehr positive Effekte gehabt – eine starke Sozialpolitik, sozialer Wohnbau, Verbesserungen der Arbeitsbedingungen usw. Doch auch sie hat nach dem 2. Weltkrieg das Auto für sich entdeckt und die (städtische) Sozialpolitik einem fundamentalen Wandel unterzogen. Ziel war es nicht mehr, allen Menschen attraktiven Wohnraum anzubieten, der eingebettet in ein Netz aus Frei- und Grünräumen war und angebunden durch dichten öffentlichen Verkehr. Vielmehr war es die Utopie einer autogerechten Stadt und ein leistbarer Individualverkehr für jede*n. Das Auto wurde als Zeichen des Wohlstands angesehen und der Motorisierungsgrad war anhin ein bedeutender Indikator für den Erfolg sozialdemokratischer Politik. Während der autogerechte Umbau Wiens zumindest langsam voranschritt – von den Stadtautobahnprojekten kam kaum eines zur Umsetzung – wurde erstmals Ende der 70er-Jahre Kritik an dieser Politik laut, nicht zuletzt aufgrund der hohen Zahl an Verkehrstoten. Die Stadt Wien reagierte in den 80er Jahren, angetrieben durch den U-Bahnbau – mit einer ersten Welle an Verkehrsberuhigungsmaßnahmen. Zehn Jahre später erfolgte dann nochmals ein Schritt zur Attraktivierung des Autoverkehrs, indem Fahrbahnen verkleinert und Gehsteigparken eingeführt wurde, um Parkraum zu schaffen.

Wie sieht es heute aus? Während in den letzten zwei Jahrzehnten ein langsames Umdenken in der Sozialdemokratie geschieht und mehr Fokus auf die Verbesserung des öffentlichen Verkehrs und Rad- und Fußverkehrs gelegt wird, ist das Automobil mehr denn je im Fokus der Politik. Die Utopie des leistbaren Autos ist bis heute aktuell und prägt die Entscheidungen der sozialdemokratischen Stadtpolitik – und das, obwohl hinlängst bekannt ist, dass vor allem reichere Bevölkerungsschichten davon profitieren. Vielleicht sollte sich die Sozialdemokratie europaweit eine neue Utopie einer lebenswerten Stadt suchen, denn das, was vielfach passiert, nagt an ihren eigenen Grundpfeilern.

Beitrag von Johann

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