Von Dystowien zu Utowien

  • Post category:Text
  • Post comments:0 Comments

Perspektivenwechsel aus Sicht einer Dysto- bzw. Utowienerin

Die Dystowienerin sitzt vor ihrem Computer in ihrer Wohnung in Wien. Es ist Winter, alles ist grau in grau. Gefühlt befindet sie sich seit Sommer durchgehend im Lockdown und verbringt noch mehr Zeit im digitalen Raum als früher. Die meisten in ihrem Umfeld bewegen sich hauptsächlich dort, während sie physisch kaum vom Fleck kommen. Im digitalen Raum gibt es unterschiedliche Räume: vom Chatroom bis hin zu Renderings in Computerspielen. Letzten Frühling noch herrschte ein gewisser Optimismus, den digitalen Raum endlich noch mehr auszubauen und für mehr Menschen zugänglich zu machen. – Corona sei die Chance, die Digitalisierung voranzutreiben. Man könne doch quasi alles in diesen Raum verlagern: Soziale Kontakte, Arbeit (Homeoffice), Studieren, Schule, Meetings, Einkaufen, Unterhaltung, kulturelle Events, Ausstellungen, Vorträge, Partys … Überall war zu hören, dass sich unsere Arbeitswelt nachhaltig verändern würde und Homeoffice die Zukunft sei. Und einige Aspekte an dem Ganzen findet selbst die Dystowienerin bequem.

Die globale Vernetzung war ja an sich nichts Neues. Schon lange weicht der digitale Raum nationale Grenzen auf und Global Player, wie Google, Amazon oder Facebook sind omnipräsent. Gerade jetzt ist es noch bequemer, kapitalistische Begierden bei den unmoralischen Bestbietern zu befriedigen, die wenig überraschend die ersten Treffer auf Google sind. Reale soziale Kontakte sollen weitgehend vermieden werden und Google weiß sowieso besser, was sich die Dystowienerin wünscht. Der Kapitalismus ist in der virtuellen Welt genauso real wie in der physischen Welt.

Die Stärken, Schwächen, Chancen und Risiken des digitalen Raumes und des Internets sind ein weites Feld. Mit der Klimakrise will sie jetzt erst garnicht anfangen, das würde den Rahmen dieser Erzählung sprengen.

Doch das sind nur einige wenige Entwicklungen, die die Dystowienerin besorgen. Dann ist da noch das Thema der Gleichberechtigung, worüber sie in letzter Zeit oft nachdenkt. Dominieren doch die Männer noch immer viele Position in den meisten Ländern, wie zum Beispiel in den Bereichen Politik oder Stadtplanung und Architektur. – Wie viele Städte wurden von Frauen geplant? Gerade die Verkehrsplanung ist nach wie vor von Männern dominiert. Es verwundert wenig, dass sich unzählige Planungen an weiße Hetero-Männer mit fixem Job richten und die Infrastrukturen an deren Mobilitätsbedürfnisse angepasst sind. „Die Planung müsste viel inklusiver sein“, denkt die Utowienerin „Und wer weiß, ob in der Planung so viel schiefgelaufen wäre und viele Missstände anhalten würden, wenn von Anfang an mehr Frauen und benachteiligte Gruppen beteiligt wären?“

Aber auch der digitale Raum wurde in vielen Bereichen von Männern für Männer programmiert. Mittlerweile versinkt die Dystowienerin geradezu in dystopischen Gedanken. Auch die Zukunftsvorstellungen des neuen Computerspiels Cyberpunk 2077 geben keine Hoffnung. Diese erinnern an Visionen der Transhumanistinnen der Vergangenheit (Blade Runner) oder an eine Dystopie der Gegenwart oder sogar Vergangenheit. „Hat denn tatsächlich niemand kreativere Ideen für die Zukunft?“, fragt sich die Dystowienerin. Wenigstens kann bei den Spielfiguren Vagina oder Penis und Stimme beliebig kombiniert werden.

Doch die Dystowienerin hat auch keine aktuellen Utopien im Kopf. Also sucht sie im digitalen Raum nach utopischen Projekten. Die Utowienerin findet eine Fülle interessanter Initiativen weltweit, die ihre eigenen kleinen Utopien umsetzen. Diese reichen von alternativen Makroökonomien bis hin zu gemeinschaftlichem Wohnen. Aber dorthin kann sie in der Realität nicht so schnell reisen. Da die Dystowienerin schon wieder seit dem Aufstehen vor ihrem Computer sitzt, beschließt sie einen Spaziergang durch Dystowien zu machen. „Früher waren noch mehr Utowienerinnen unterwegs, aber die sitzen vermutlich gerade im digitalen Raum herum.“, grübelt sie vor sich hin, während sie in Richtung Stadtpark geht.

Vor einem Gingko-Baum bleibt sie stehen. Auf einer Parkbank neben dem Baum sitzt jemand. Sie tritt ein wenig näher, sodass sie hören kann, was die Person vor sich hin jammert: „Früher woa ois besser, domois im Roten Wien. Man hat nu o a große g‘meinsame Utopie g‘habt, hinter der a politischer Wille g’standen is. Und im G‘meindebau woa vü mehr Leben und kaLärmbelästigung wegen die Ausländer. Und heutzutag‘ gibt‘s ned amoi mehr an Hausmeister. Oba da ko ma nix mochn.“ Es war der alte Wiener Grantler, der Inbegriff des Dystowieners.

Die Dystowienerin geht weiter, aber der letzte Satz des Grantlers, den sie gehört hat, bleibt an ihr hängen und selbst als sie wieder zu Hause ist, denkt sie noch immer über seine Aussage nach. „Kann man da wirklich nichts machen? Was ist mit den Utopien von gestern passiert? Was ist aus dem Roten Wien geworden?“ fragt sie sich. „Vielleicht gibt es ja ein Utowien. Es muss doch noch Utowienerinnen geben,“, setzt die sie ihren Gedankengang fort. In diesem Moment erinnert sie sich an ein zentrales Prinzip von Utopien, das sie letztens in irgendeinem Buch gelesen hat: Utopien beruhen auf kollektivem Können und sind keine individuellen Wunschvorstellungen. Dabei steht nicht der transhumanistische Supermensch im Vordergrund, sondern der heute existierende Mensch. Die Utowienerin kommt zu dem Schluss, dass man schon etwas tun kann und dass Hoffnung besteht. Genauer gesagt in Utowien – im realen Raum. Der öffentliche Raum in Utowien ist der lokalste Handlungsspielraum der Utowienerinnen. Plötzlich ist die Utowienerin ganz aufgeregt und voller Ideen. Selbst über den Wiener Grantler freut sie sich – denn dieser ist trotz aller Krisen der Parkbank im öffentlichen Raum treu geblieben.

Im nächsten Augenblick malt sich die Utowienerin die buntesten öffentlichen Räume aus. Die Straßen und Plätze sind manchmal gar nicht genau zu erkennen vor lauter Farben. Inmitten von sehr viel Grün stechen bunte Sitzgelegenheiten und Spielmöglichkeiten hervor. Zwischendurch schlängelt sich ein Radweg und manchmal ein kleiner Bach. Auch die Fassaden der Häuser sind grün und bei einigen Gebäuden sticht die rote Inschrift der Stadt Wien hervor: „Stadthaus – erbaut von der Gemeinde Wien aus den Mitteln der CO2-Steuer“. *

Es gibt so viele Möglichkeiten in Utowien, bei denen keine Utowienerin ausgeschlossen wird. Selbstverständlich ist dort auch nicht immer alles harmonisch, doch auch für Konflikte ist Platz in der Öffentlichkeit. Die Politikerinnen haben längst begriffen, dass es den öffentlichen Diskurs braucht und die Utowienerinnen durch ihr kollektives Können Utowien vorantreiben und verändern.

Es sind mindestens 15 Minuten vergangen, bis die Utowienerin von ihrer utopischen Gedankenreise zurück in die Gegenwart kehrt. Nach einer kurzen Ernüchterung weiß die Utowienerin sofort was sie tun will. Sie tritt betritt kurzfristig den digitalen Raum zwecks Vernetzung und Koordinierung und kann es kaum erwarten die anderen Planer*innen im öffentlichen Raum Utowiens zu treffen. PIT PIT Hurra!

* Dieses Gedankenspiel geht auf Gabu Heindl zurück, das sie uns im Rahmen ihres Vortrags präsentiert hat. In ihrem Buch Stadtkonflikte geht sie auf die historischen Inschriften des Roten Wien „… aus den Mitteln der Wohnbausteuer“ genauer ein und setzt diese in den heutigen Kontext.


Inspirationsquellen:

Petra Schaper Rinkel (2020): Fünf Prinzipien für die Utopien von Morgen, Wien: Picus Verlag.

Heindl, Gabu (2020): Stadtkonflikte, Wien: mandelbaum verlag.

Janna, Aljets (2020): RAUM NEHMEN! WARUM WIR EINE FEMINISTISCHE VERKEHRSPLANUNG BRAUCHEN, https://www.zeitschrift-luxemburg.de/raum-nehmen-warum-wir-eine-feministische-verkehrsplanung-brauchen/ (21.2.2021)

Beitrag von Ruth

Schreibe einen Kommentar